Durchhalten. „Poker Face“ ist eine dieser Serien, die sich einschleifen müssen, und das hat mit der Machart zu tun: der Zehnteiler stammt aus der Werkstatt von Rian Johnson, der die gängigen Erzählmoden bereits in den Filmen „Knives Out“ und „Glass Onion“ mit massiven Retro- und Satire-Elementen durchbrach. Dort schuf er Oldschool-Krimis im entspannten Agatha-Christie-Format. Diesmal verneigt er sich vor den Krimiserien der Prä-Streaming-Ära wie „Columbo“ oder „Mord ist ihr Hobby“ und wie sie sonst noch so alle hießen.
Daher der Retrovorspann, obwohl die Story in der Gegenwart spielt. Daher Innenaufnahmen, denen man das Studio anmerkt, gefilmt vom Stativ oder Kamerawagen und so stark von oben beleuchtet, dass man sich verwundert die Augen reibt. Auch die Struktur greift auf die Gewohnheiten von gestern zurück: jede Folge ein Fall.
Eine Paraderolle für Natasha Lyonne
Wie „Knives Out“ und „Glass Onion“, den Filmen um Daniel Craig als Privatdetektiv Benoit Blanc, fährt auch die Komödie „Poker Face“ unheimlich viele bekannte Gesichter auf. Adrien Brody etwa, zuletzt gesehen in „Asteroid City“, spielt in der Auftaktfolge den pomadisierten Casino-Besitzer Sterling Frost. Er betreibt eine Spielhölle und ein Hotel, lässt Leute erschießen, die Skandalöses über Umsatzgaranten ans FBI melden wollen. Er führt das Geschäft, wie es ihm sein Vater (Ron Perlman) beigebracht hat.
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Mit einer Ausnahme: Sterling Frost junior will eine Kellnerin anders als der Senior einsetzen. Sie heißt Charlie Cale und ist die Hauptfigur von „Poker Face“ – eine Paraderolle für die zerknautschte Natasha Lyonne, die mit der drogensüchtigen Nicky Nichols in „Orange is the New Black“ auf sich aufmerksam machte und in der urkomischen, aber auch traurig-klugen Zeitschleifenserie „Matrjoschka“ aka „Russian Doll“ zu sich fand.
Irgendwann wurde es ihnen zuviel
Frage an Cale: „Sind Sie auf Koks?“ Die Antwort, lässig gesprochen mit der kaputten Reibeisenstimme, die in jeder Synchrofassung über Bord gehen muss: „Nein, Kaffee, ich dachte, dass ich heute mal vernünftig bin.“ Es ist eine Rolle, wie sie im alten Fernsehen nur Männern gestattet war, und das funktioniert in „Poker Face“ ebenso gut wie in „Matrjoschka“. Der Unterschied zur dortigen Heldin Nadja besteht in der Menschenfreundlichkeit, die Charlie Cale ausmacht. Sie haust in einem trashigen Wohnwagen, als die Story beginnt. Sie besitzt nicht viel mehr als ihr Smartphone und ihre Schlagfertigkeit, läuft als kleine Person mit langem Mantel, großer Brille, Baseballkappe und sehr vielen Haaren in der Gegend herum.
Und niemand außer Sterling Frost weiß, was die abgewrackte co*cktail-Kellnerin eigentlich kann: Lügner entlarven. Sie kann es besser als jeder Lügendetektor, hat mit dieser Gabe allerdings eine Weile Poker gespielt, und irgendwann wurde es den Casino-Riesen zuviel: Väterchen Frost sorgte dafür, dass Cale keine Karten mehr anfasst und als Kellnerin in Sichtweite bleibt. Söhnchen Frost will das ändern und die Gabe in seinem Sinn einsetzen.
Jede Folge ein anderer Mörder
In „Poker Face“ wird trotzdem nicht wirklich Poker gespielt: Cale muss vor allem auf der Flucht sein. Nach Ereignissen, die wir hier nicht vorwegnehmen wollen, flieht sie aus der lichterblinkenden Casino-Hölle. Sie wird von einem Handlager Sterlings (Benjamin Bratt) gejagt. Hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Hört Menschen zu, was ebenfalls eine Superkraft sein kann.
Und begegnet mit jeder Folge einem anderen Mörder, der mit ihrer Hilfe überführt werden kann, an einer Raststätte etwa, in einem Altenheim, in einer Metal-Band oder im Tricktechniker-Milieu von Hollywood – eine wahnsinnig melancholische Folge mit Nick Nolte, Cherry Jones und einem frei flottierenden Pferdekopf.
Am besten in kleinen Portionen
Wer Lyonne noch nicht kennt, wird Charlie in der ersten Stunde von „Poker Face“ als zu dick aufgetragen empfinden. Nach und nach aber erweist sich „Poker Face“ als großer Spaß, und den merkt man nicht nur der charismatischen Lyonne an und den wechselnden Gästen, sondern auch der Arbeit der Kameraleute. Christine Ng etwa gestaltete die Folge mit der Raststätte im Nirgendwo von New Mexico – Werbetafeln und Tank-Tristesse – im klassischen Road-Movie-Stil. Platzende amerikanische Träume. Die Grundstimmung dieser geradlinigen, mit einigen Ausnahmen (Schauspieler-Legenden, abgehalfterte Künstler und Casino-Besitzer) von einfachen Leuten erzählenden Produktion. Die deutsche Fassung startete bereits 2023 auf Sky und läuft nun auch bei Amazon Prime.
Rian Johnson macht unterdessen weiter: Die Arbeiten für den Nachfolger von „Knives Out“ und „Glass Onion“ laufen, eine zweite Staffel von „Poker Face“ ist vereinbart, und irgendwann wird es vielleicht auch mit der angekündigten „Star-Wars“-Trilogie noch etwas werden. Abwarten und fernsehschauen, am besten wie damals: in kleinen Portionen, auf die man sich schon den ganzen langen Tag über freut.
Poker Face läuft bereits auf Sky und Wow. Jetzt auch auf Amazon Prime.